24. Jahrgang – 2022
Herausgegeben vom
Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG) e.V.
Redaktion:
Kevin-Niklas Breu (Oldenburg), Stefan Micheler (Hamburg), Kirsten Plötz (Koblenz), Klaus Sator (Berlin)
Erweiterte Redaktion:
Andreas Brunner (Wien), Filippo Carlà-Uhink (Potsdam), Rüdiger Lautmann (Berlin), Andreas Niederhäuser (Basel)
Erschienen im Männerschwarm Verlag, Hamburg
Editorial
Liebe Leser:innen,
erfreulicherweise kann Invertito 24 erstmals mehrheitlich Hauptbeiträge präsentieren, die sich mit Frauen begehrenden Frauen beschäftigen – und zwar vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik. Unter dem Titel Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert versammeln wir folgende Beiträge: Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger stellen in Staatlich-medial begrenztes Empowerment? die Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung „Neue Damengemeinschaft“ um 1900 vor, eine Damenvereinigung, die vor allem deshalb bekannt wurde, weil sie 1909 in der Presse attackiert wurde. Anhand der Pressekampagne gegen die Neue Damengemeinschaft arbeiten die Autorinnen heraus, wie eng der politisch-soziale Rahmen für lesbische Frauen im Kaiserreich gesteckt war. Steff Kunz, Muriel Lorenz und Mirijam Schmidt liefern mit „[S]ie nennen sich Bubi und Mädi, lachen, treiben allerhand Allotria“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten Zwischenergebnisse ihrer Untersuchungen aus ihrem Forschungsprojekt „Alleinstehende Frauen“, „Freundinnen“, „Frauenliebende Frauen“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er – 1970er Jahre). Dabei stützen sie sich vor allem auf biografische Materialien und staatliche Akten, insbesondere Sorgerechts- und Fürsorgeakten sowie Akten von Patientinnen aus Heil- und Pflegeanstalten. Der Beitrag dokumentiert, dass es auch außerhalb der großen Metropolen im deutschsprachigen Raum Frauen liebende und Frauen begehrende Frauen gab, die staatlicher Diskriminierung sowie gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt und in ihrer persönlichen Entfaltung behindert waren.
Kirsten Plötz wendet sich in ihrem Beitrag „… eine der massivsten Bedrohungen“. Westdeutsches Ehe- und Familienrecht vs. lesbische Liebe, 1946–2000 einem in der Geschichtsforschung noch wenig beachteten Thema zu, der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im bundesdeutschen Ehe- und Familienrecht und dessen Auswirkungen speziell auf lesbische Mütter. Wie anhand der bis Ende des 20. Jahrhunderts gängigen Praxis des Sorgerechtsentzuges gezeigt wird, schränkte das Ehe- und Familienrecht die Möglichkeiten, lesbisch zu leben, erheblich ein. Angesichts der nach wie vor stark ausgeprägten Unsichtbarkeit von lesbischen Frauen in vielen Lebensbereichen ist es umso wichtiger, Diskriminierungen und Verhinderungen gleichgeschlechtlicher Liebe in Gesellschaften, die grundlegend entlang geschlechtlicher Hierarchien organisiert sind, entsprechend nach Geschlecht zu untersuchen. Daher sollte das Ehe- und Familienrecht in queere Geschichtsschreibung einbezogen werden. Viele Frauen, die lesbisch liebten, waren verheiratet und damit oftmals abhängig gestellt.
Über die lesbische Geschichtsschreibung hinausgehend, sind die drei in diesem Heft versammelten Schwerpunktbeiträge als Bereicherung für die deutschsprachige LSBTIQ-Forschung zu verstehen. Zum einen zeigen sie, mit welchen besonderen gesellschaftlichen und politischen Hindernissen Frauen begehrende Frauen konfrontiert waren und welche Bedeutung ihnen für die Entwicklung einer LSBTIQ-Bewegung zukam. Zum anderen eröffnen die in den Beiträgen gewählten Themenschwerpunkte und Ansätze neue Perspektiven für die geschichtswissenschaftliche Erforschung Männer begehrender Männer und geschlechtlich nonkonformer Menschen, etwa wenn es um die Möglichkeiten der Zusammenarbeit innerhalb der politischen Emanzipationsbewegungen oder um die Frage der Elternschaft geht.
Zu diesen drei Beiträgen gesellt sich Lio Okrois Beitrag über die Konzeption eines queeren Stadtrundgangs bzw. Audioguides in Freiburg. Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide „Queere Geschichte*n Freiburg“ nimmt die Entwicklung von Sexualitäten, Geschlechtern und Identitäten in der Stadtgeschichte anhand ausgewählter Stationen in den Blick und hinterfragt, wie wir uns heute auf sie beziehen können. Dabei werden Dichotomien, Vorannahmen und Ausschlüsse reflektiert und Ambivalenzen aufgespürt. Der Beitrag veranschaulicht Zielkonflikte zwischen den theoretischen Ansprüchen des Queering History und projektspezifischen Anforderungen. Diese Spannungsfelder des Erinnerns können nicht gänzlich aufgelöst werden, sondern erfordern vielfach Kompromisse und Abwägungen. Lio Okroi behandelt zentrale Spannungsfelder im Hinblick auf die Verwendung von Identitätskategorien, die Einbindung vielfältiger Stimmen, Probleme in Bezug auf die Informationslage, die Behandlung von Einzelpersonen sowie die Thematisierung von Gewalt.
Maik T. Schurkus schließlich untersucht in „Guter Forster, geh und klag die Götter an“, wie der Untertitel besagt, Georg Forsters Auseinandersetzung mit der gleichgeschlechtlichen Liebe. Der Naturforscher Georg Forster (1754–1794) äußerte sich in zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen über gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern und stand im engen Austausch und in persönlicher Beziehung zum Historiker Johannes (von) Müller (1752–1809) und zum Schauspieler und Dramatiker August Wilhelm Iffland (1759–1814), deren homosexuelle Neigungen beziehungsweise Beziehungen bereits zu Lebzeiten öffentlich bekannt waren. Auch Forster sah sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, „griechischen Neigungen“ zu frönen. Maik T. Schurkus liefert einen Überblick über entsprechende Zeugnisse insbesondere aus Forsters Kasseler Zeit (1780–1785) und ordnet sie in den sich Ende des 18. Jahrhunderts verändernden Diskurs über die Vielfalt menschlicher Sexualität ein.
Eike Wittrock versammelt in seinem kleinen Beitrag Fragmente einer Chronik des schwulen Theaters – 1956–1976 Beispiele zur (Vor-)Geschichte des schwulen Theaters in der frühen Bundesrepublik. Bereits bevor mit Gruppen wie Brühwarm eine rein schwule Theaterbewegung entstand, wurde bereits im Theater für die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz von (männlicher) Homosexualität agitiert. Manfred Herzer-Wigglesworth legt in seinem Artikel Entretien avec M. Foucault. Notizen zur neuesten Hirschfeld-Kritik und Foucault-Apologie dar, warum nach seiner Auffassung das 1978 in deutscher Übersetzung erschienene Werk Sexualität und Wahrheit Band 1: Der Wille zum Wissen des französischen Philosophen Michel Foucault seit den 1980er Jahren speziell in der (deutschsprachigen) Forschung zur Geschichte von Schwulen und Lesben nur allzu unkritisch rezipiert worden sei. Für Herzer-Wigglesworth enthält Foucault kein Emanzipationsversprechen.
Nora Eckert liefert mit Meine Männer, welche Männer? Trans*Frau sein in hedonistischen Zeiten – einen aufschlussreichen Bericht über ihr Leben als trans*Frau im Berlin der 1970er Jahre.
In dieser Ausgabe gibt es nur wenige Rezensionen. Dies möchte die Redaktion zum Anlass nehmen, daran zu erinnern, dass das Jahrbuch von der Mitwirkung seiner Leser*innen lebt und zum Einreichen von Rezensionen zu interessanten Neuerscheinungen aufzufordern sowie innovativen Beiträgen und Berichten zu den unterschiedlichen Themenfeldern der Geschichte der Homosexualitäten aufzurufen.
Wir wünschen eine bereichernde Lektüre!
Die Redaktion
Hauptbeiträge
Lio Okroi
Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide "Queere Geschichte*n Freiburg"
Queering History nimmt die Entstehung historischer Sexualitäten, Geschlechter und Identitäten in den Blick und hinterfragt, wie wir uns heute auf sie beziehen können. Dabei sollen Dichotomien, Vorannahmen und Ausschlüsse reflektiert und Ambivalenzen aufgespürt werden. Wie aber kann dieser Ansatz und Anspruch konkret in Erinnerungsprojekten umgesetzt werden und welche Schwierigkeiten ergeben sich dabei?
Der Audioguide "Queere Geschichte*n Freiburg", den Lio Okroi 2021 veröffentlicht hat, erzählt an 27 Stationen historische und aktuelle queere Geschichten aus Freiburg. Während seiner Erarbeitung ergaben sich vielfach Zielkonflikte zwischen den theoretischen Ansprüchen des Queering History und projektspezifischen Anforderungen. Diese Spannungsfelder des Erinnerns können als Dilemmata nicht gänzlich aufgelöst werden, sondern erforderten vielfach Kompromisse und Abwägungen.
Lio Okroi behandelt in diesem Artikel für das Projekt zentrale Spannungsfelder im Hinblick auf die Verwendung von Identitätskategorien, die Einbindung vielfältiger Stimmen, Probleme in Bezug auf die Informationslage, die Behandlung von Einzelpersonen sowie die Thematisierung von Gewalt. Mithilfe von Beispielen aus dem Audioguide werden konstruktive Umgangsmöglichkeiten präsentiert sowie die Möglichkeiten und Limitationen der praktischen Umsetzung von Queering History diskutiert.
Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger
Staatlich–medial begrenztes Empowerment? — Eine Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung "Neue Damengemeinschaft" um 1900
Während des Kaiserreichs gründete sich in Berlin (spätestens) 1908 eine lesbische Selbstorganisierung, die sich vieldeutig "Neue Damengemeinschaft" nannte. Sie geriet im Januar 1909 in den Fokus diffamierender Berichterstattung durch die Wochenzeitung Die Große Glocke. Nach diesem medialen Angriff auf ihre Integrität als Individuen und als Zusammenschluss strengten die selbstbewussten Frauen* mutig einen Beleidigungsprozess gegen den Redakteur an. Während der Gerichtsverhandlung und nach ihrer Niederlage wurden sie mit lokalen, regionalen wie auch europäischen Artikeln weiter diskreditiert. Der Beitrag rekonstruiert, insbesondere auf der Basis von Zeitungsquellen, Hintergründe der Organisierung und der gewählten Selbstbenennung, die Inhalte der auf Skandalisierung, Diffamierung und Beschämung zielenden, wellenförmigen Presseattacken sowie das problematische Urteil des Richters. Anhand der Pressekampagne gegen die Neue Damengemeinschaft wird herausgearbeitet, wie eng der politisch–soziale Rahmen für lesbische Subjektivierungsprozesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit des Kaiserreichs gesteckt wurde. In ihrer Berichterstattung griff Die Große Glocke auf die (sexualwissenschaftliche) Vorstellung von echten und unechten Lesben zurück: Damit ließen sich erstere als unauffällig und deshalb als Positivbeispiel dulden und der auffällig gewordenen Neuen Damengemeinschaft gegenüberstellen. Auch nach den massiven öffentlichen Anfeindungen finden sich Spuren von Zusammenkünften, die nahelegen, dass zumindest einige Mitfrauen* nicht aufgaben, sich gemeinsam zu treffen.
Steff Kunz, Muriel Lorenz, Mirijam Schmidt
"[S]ie nennen sich Bubi und Mädi, lachen, treiben allerhand Allotria" — Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten
In ihrem Beitrag stellen Steff Kunz, Muriel Lorenz und Mirijam Schmidt Zwischenergebnisse eines vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden–Württemberg finanzierten Forschungsprojekts zur bisher wenig bekannten Geschichte lesbischer Frauen und ihrer Lebensbedingungen im deutschen Südwesten im letzten Jahrhundert vor.
Sie stützen sich dabei vor allem auf biographische Materialien und staatliche Akten, insbesondere Sorgerechts– und Fürsorgeakten sowie Patientenakten aus Heil– und Pflegeanstalten. Dabei können sie aufzeigen, dass es auch im ländlichen Raum frauenliebende Frauen gab. Sie dokumentieren die zeitgenössische staatliche Diskriminierung sowie die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Lesben und die damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der persönlichen Lebensgestaltung sowie die Vielfältigkeit persönlicher Lebensentwürfe von frauenliebenden und frauenbegehrenden Frauen.
Kirsten Plötz
"… eine der massivsten Bedrohungen". Westdeutsches Ehe– und Familienrecht vs. lesbische Liebe, 1946–2000
Das Ehe– und Familienrecht schränkte die Möglichkeiten erheblich ein, lesbisch zu leben. Kirsten Plötz‘ Beitrag zeigt dies anhand des Entzugs des Sorgerechts. Dieses Unrecht war damals wenig bekannt; es ist es bis heute.
Plötz betont, dass Diskriminierungen und Verhinderungen gleichgeschlechtlicher Liebe in Gesellschaften, die grundlegend entlang geschlechtlicher Hierarchien organisiert sind, entsprechend nach Geschlecht untersucht werden sollten. Daher sind Ehe– und Familienrecht in queere Geschichtsschreibung zukünftig einzubeziehen. Viele Frauen, die lesbisch liebten, waren verheiratet und damit oftmals abhängig gestellt.
Weitere Beiträge
Maik T. Schurkus
„Guter Forster, geh und klag die Götter an.“ Georg Forsters Auseinandersetzung mit der gleichgeschlechtlichen Liebe
Manfred Herzer–Wigglesworth
Entretien avec M. Foucault. Notizen zur neuesten Hirschfeld–Kritik und Foucault–Apologie
Eike Wittrock
Fragmente einer Chronik des schwulen Theaters — 1956–1976
Nora Eckert
Meine Männer, welche Männer? Trans*Frau sein in hedonistischen Zeiten — ein Bericht über die 1970er Jahre
Rezensionen
Jens Dobler: You have never seen a dancer like Voo Doo. Das unglaubliche Leben des Willy Pape
(Klaus Sator)
Jens Nordalm: Der schöne Deutsche.Das Leben des Gottfried von Cramm
(Klaus Sator)
Anna Hájková: Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust
(Lutz van Dijk)
Craig Griffiths: The ambivalence of gay liberation: male homosexual politics in 1970s West Germany
(Christian Klesse)
Heinz–Jürgen Voß (Hg.): Westberlin — ein sexuelles Porträt
(Lutz van Dijk)