25. Jahrgang – 2023
Herausgegeben vom
Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG) e.V.
Redaktion:
Kevin-Niklas Breu (Oldenburg), Stefan Micheler (Hamburg), Kirsten Plötz (Koblenz), Klaus Sator (Berlin)
Erweiterte Redaktion:
Andreas Brunner (Wien), Filippo Carlà-Uhink (Potsdam), Rüdiger Lautmann (Berlin), Andreas Niederhäuser (Basel)
Erschienen im Männerschwarm Verlag, Hamburg
Editorial
Liebe Leser:innen,
das 25. Invertito bietet gleich in doppelter Hinsicht Anlass zum Feiern: als Jubiläumsausgabe und als Schwerpunktheft für die queere Geschichte Osteuropas. Seit 1999 stellt unser Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten nun schon eine Plattform für Wissenschaftler:innen bereit, die sich mit der Entwicklung sexueller und geschlechtlicher Identitäten und Bewegungen jenseits der heterosexuellen Norm beschäftigen. Im Fokus stand dabei immer wieder die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert, speziell auch – aber bei weitem nicht nur – die Geschichte der Verfolgung homosexueller Männer während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Das beständige Bestreben der Redaktion, das Themen- und Epochenspektrum zu erweitern, hat jedoch ebenso Früchte getragen, etwa mit einer Schwerpunktausgabe zur queeren Geschichte Nordamerikas 2017 oder zu lesbischem Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert 2022. Ebenso sind in Invertito 2020 Regionalstudien zur LSBT-Geschichte in Südwestdeutschland erschienen, von denen ein Teil aus einem universitären Forschungsverbund (Stuttgart/Ludwigsburg/Berlin/ München) stammte.
Dass sich die Forschung zur LSBT-Geschichte mit entsprechenden Projekten und Netzwerken, wie etwa in Stuttgart (LSBTTIQ in Baden und Württemberg), Heidelberg (Lesbische Lebenswelten) oder Berlin (Queere Zeitgeschichten), nun mehr und mehr auch an deutschen Universitäten etabliert, ist – nebenbei bemerkt – ebenso ein Grund zum Feiern. Dennoch ist es noch ein weiter Weg: Nach wie vor gibt es in der deutschsprachigen Hochschullandschaft, anders als etwa in den angelsächsischen Ländern, keine Professur zur queeren Geschichte. Einen Großteil der Forschungs- und Vermittlungsarbeit leisten nach wie vor freischaffende Historiker:innen oder, wenn sie universitär angebunden sind, Historiker:innen in ihrer Freizeit sowie auch Studierende. Vor diesem Hintergrund möchte Invertito seinem Selbstverständnis nach gerade dieser Gruppe eine Möglichkeit zur Publikation und damit zur Vernetzung bieten. Das Jubiläum haben wir ebenfalls zum Anlass genommen, um unsere Grundsätze zu aktualisieren. Sie sind in unserem Selbstverständnis formuliert, das in dieser Ausgabe abgedruckt und darüber hinaus auch auf unserer Website (http://www.invertito.de/) zu finden ist.
Dass Vernetzung und Publikation zusammenhängen, zeigt auch die aktuelle Ausgabe: Mit den Beiträgen zur queeren Geschichte Osteuropas knüpft Invertito 25 unmittelbar an die Jahrestagung des Fachverbandes Homosexualität und Geschichte (FHG) an, die im Oktober 2022 in Berlin stattfand. Unter dem Motto „Aspekte der queeren Geschichte Osteuropas“ griff die Konferenz ein Desiderat in der europäischen LSBT-Forschung auf, dessen Bedeutung und Aktualität zuletzt mit dem Überfall Russlands auf die Gesamt-Ukraine im Februar 2022 (nach der Annexion der Krim 2014) vor Augen geführt wurde. Denn der Krieg bedeutet nun zusätzlich zur anhaltenden Benachteiligung von LSBTTIQ* in der ukrainischen Gesellschaft die leibliche Bedrohung für Aktivist:innen und Zeitzeug:innen und birgt die Gefahr der Zerstörung privater und von Community-Projekten getragener Archive. Geladen waren mit Joanna Ostrowska, Ineta Lipša, Jan Krčál, Denisa Vídeňská, Natalja Neshta and Tetjana Khoroshun Wis-senschaftler:innen und Aktivist:innen aus Polen, Tschechien, Lettland, Ungarn sowie der Ukraine. Die Konferenzbeiträge zeigten, wie eng verwoben auch die osteuropäische LSBT-Geschichtsschreibung mit den aktuellen Forderungen nach einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen und der stalinistischen Verfolgungsgeschichte sowie nach der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung queerer Menschen in Ost- und Ostmitteleuropa ist. Die Vorträge reichten thematisch von der Verfolgung homosexueller Männer in Polen während der NS-Besatzung und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung unter der im Oktober 2022 noch amtierenden rechtskonservativen PiS-Regierung über die Lebenswelten und Subkulturen homosexueller Männer und Frauen im Tschechien und Lettland des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu aktuellen Themen, wie dem Umgang der LSBT-Bewegung mit den Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit unter dem Deckmantel des Jugendschutzes in Ungarn oder den Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf queere Aktivist:innen in der Ukraine.
Von den Vortragenden konnten für diese Ausgabe Dr. Joanna Ostrowska (Jagiellonen-Universität Krakau, Universität Warschau), Dr. Ineta Lipša (Universität Lettlands, Riga) und Denisa Vídeňská (Universität Pardubice) gewonnen werden. Ausgehend von einer Fotografie aus dem Nachlass des polnischen Partisanen Adam Gawron widmet sich Ostrowska in ihrem Beitrag Das Archiv ist voll! den Herausforderungen der Überlieferung queerer Geschichte in Polen. Nicht zuletzt ist der vorliegende Beitrag der Veröffentlichung ihrer mit dem polnischen Literaturpreis Nike ausgezeichneten Studie Oni (dt. Jene) zur NS-Verfolgung homosexueller polnischer Männer zu verdanken. Wie die Autorin schreibt, erreichte sie 2022 über Social Media die Nachricht einer Frau aus einem Dorf in der Nähe der Kleinstadt Radom mit Fotografien eines Männerpaares aus dem frühen 20. Jahrhundert. Ausgehend von den Fotografien stellte die Autorin weitere Nachforschungen vor Ort an und führte Interviews mit Zeitzeug:innen. Daraus rekonstruierte sie die Lebensgeschichte Gawrons und beleuchtete somit ein Stück weit auch die Lebensbedingungen homosexueller Männer in einer Zeit, aus der nach den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur nur wenige Unterlagen, zumal in öffentlichen Archiven, erhalten geblieben sind. Queere Geschichte in Polen, so zeigt Ostrowska, ist nach wie vor zum Großteil Detektiv:innenarbeit und erfordert nicht erst bei der Auswertung einen besonderen Zugang.
Auch Ineta Lipša behandelt in ihrem Artikel Zur Performanz mann-männlichen Begehrens im öffentlichen Raum Lettlands in der Zeit des späten Stalinismus die Lebenswelten homosexueller Männer, speziell die homosexuelle Subkultur im Riga der 1930er und 1940er Jahre. Dabei stützt sie sich auf die Tagebücher des Letten Kaspars Alexandrs Irbe (1906–1996), die einen reichen und einmaligen Quellenbestand der queeren Geschichte Lettlands bilden. Der Beitrag erschien erstmals 2022 in englischer Sprache unter dem Titel Observing and Performing Male Same-Sex Desire: Appropriation of Public in Latvia during the Second World War and Late Stalinism (1940–1953) im Journal des Instituts für lettische Geschichte (Latvijas Vēstures Institūta Žurnāls). Hier liegt er nun – redaktionell überarbeitet – erstmals in deutscher Sprache vor.
Denisa Vídeňská bricht mit ihrem auf dem Konferenzvortrag basierenden Aufsatz Exilantinnen der Liebe. Betrachtungen weiblicher Homosexualität in Lída Merlínovás Werk und Leben eine Lanze für die Geschichte lesbischer Frauen in Tschechien. Wie sie schreibt, ist die historiographische Forschung zur weiblichen Homosexualität – im Gegensatz zur männlichen – in der Tschechischen Republik nach wie vor weitgehend unerschlossenes Terrain. Anhand der lesbischen Aktivist:in und Schriftsteller:in Lída Merlínová zeigt sie beispielhaft auf, welchen Platz frauenbegehrende Frauen in der homosexuellen Subkultur und Literatur in Tschechien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einnahmen und welchen Beitrag sie zur Dekriminalisierung und Entstigmatisierung gleichgeschlechtlicher Liebe leisteten. Es sei darauf verwiesen, dass die Ausgangsvoraussetzungen lesbischer Frauen für queeren Aktivismus hier ungleich schwieriger waren, denn anders als etwa in Deutschland standen in der Tschechoslowakei bis 1961 gleichgeschlechtliche Handlungen unter Männern und Frauen gleichermaßen unter Strafe. Vor diesem Hintergrund ist es beachtlich, mit welchem Selbstbewusstsein Merlínová in ihren literarischen Texten in den 1920er und 1930er Jahren für eine gleichberechtigte Sicht auf gleichgeschlechtliche Liebe von Frauen eintrat und dabei an die nicht minder emanzipatorisch angelegte Forschung Havelock Ellis’ und anderer Sexualforscher:innen jener Zeit anknüpfte.
Ergänzt werden die drei oben erwähnten Beiträge durch einen Beitrag des belgischen Historikers Hans Soetaert zu Jean Genet in Brno. Dieser basiert auf einem Vortrag, der ursprünglich ebenfalls für die FHG-Jahrestagung in Berlin vorgesehen war, aber aufgrund der Vielzahl der eingegangenen Abstracts und der Entscheidung, osteuropäischen Forschenden Vorrang zu gewähren, nicht berücksichtigt werden konnte. Mit Genets Aufenthalt in Brünn 1937 beleuchtet Soetaerts Beitrag einen in der Forschung bisher weniger beachteten Abschnitt aus dem Leben des französischen Schriftstellers. Dabei rekonstruiert er nicht nur Genets Verbindungen zu jüdischen und homosexuellen Widerstandskreisen vor Ort kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, sondern sucht davon ausgehend auch das aus seiner Sicht ungerechtfertigt heterosexualisierte Bild Genets als Lebenskünstler und Kleinkrimineller zu dekonstruieren. Dem Text zugrunde liegt eine intensive Recherche in tschechischen, österreichischen und deutschen Archiven, die bisher kaum beachtete Fotografien und Textquellen zu Tage gefördert hat.
Anknüpfend an Joanna Ostrowskas Beitrag bietet Lutz van Dijk mit Queeres Erinnern in Polen Einblicke in den queerpolitischen Erinnerungsaktivismus. Rückblickend auf 35 Jahre Engagement für die Anerkennung der queeren Opfer des Holocaust hat van Dijk nicht zuletzt auch einen sehr persönlichen Bericht über die Anfänge der geschichtlichen Aufarbeitung der NS-Verfolgung homosexueller und trans-identer Menschen in den 1980er Jahren und über die daran anknüpfende Zusammenarbeit mit Zeitzeug:innen, Forscher:innen und Gedenkstätten verfasst. Ein wichtiges Zeichen setzte der Deutsche Bundestag am 27. Januar 2023, als erstmals im Rahmen der alljährlichen Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz der queeren NS-Opfer gedacht wurde. Van Dijk war maßgeblich in die Vorbereitungen involviert und steuerte die Texte zweier Redebeiträge bei. Sie waren jeweils an den KZ-Überlebenden Karl Gorath (1912–2003) und an die in der Tötungsanstalt Bernburg ermordete Mary Pünjer (geb. Kümmermann, 1904–1942) gerichtet und wurden von der Schauspielerin Maren Kroymann bzw. dem Schauspieler Jannik Schümann vorgetragen. Beide Reden sind ebenfalls in dieser Ausgabe abgedruckt.
Manfred Herzer-Wigglesworth kommentiert in Magnus Hirschfeld als Rassist? drei kulturwissenschaftliche Arbeiten (Judith Große 2014, Veronika Fuechtner 2013, Heike Bauer 2017) kritisch, die aus neostrukturalistischer und queertheoretischer Perspektive in einigen Werken des Sexologen Magnus Hirschfeld rassistisches Denken und Vorstellungen von europäischer Überlegenheit über die Bevölkerung des Trikont nachzuweisen unternehmen. Die Autorinnen hätten sich dabei insbesondere auf die Vorstellung eines rassistischen „Orientalismus“ der Postcolonial Studies des Literaturwissenschaftlers Edward W. Said und auf den diskursanalytischen Ansatz Michel Foucaults bezogen.
Dass die Invertito-Jubiläumsausgabe zugleich eine Schwerpunktausgabe zur queeren Geschichte Osteuropas geworden ist, geht auf eine Initiative der Redaktion und der Tagungskoordinator:innen zurück. Noch während der Konferenz in Berlin wurden die Autor:innen eingeworben. Da das zahlreiche Publikum international aufgestellt war, wurde die Konferenz in englischer Sprache gehalten. Dass auch die eingereichten Schwerpunktbeiträge ursprünglich nicht in deutscher Sprache vorlagen, machte im Nachgang der Tagung Anstrengungen erforderlich, die diese Ausgabe rückblickend ebenfalls in besonderem Licht erscheinen lassen. Denn für die Übersetzung ins Deutsche mussten Gelder akquiriert werden. Neben dem Fachverband Homosexualität und Geschichte konnten die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung (hms) sowie die Stiftung Zeitlehren für die finanzielle Unterstützung der Übersetzungsarbeiten gewonnen werden. Ihnen gilt ein ganz besonderer Dank. Ebenso zu danken ist den beiden Über-setzerinnen: Stephanie Rupp für Übersetzung der Aufsätze von Ineta Lipša und Hans Soetaert aus dem Englischen sowie Beate Kosmala für die Übersetzung des Beitrags von Joanna Ostrowska aus dem Polnischen. Denisa Vídeňskás ursprünglich englischen Beitrag hat dankenswerterweise unser Redaktionsmitglied Kevin Breu in Deutsche übersetzt. Zu danken ist ebenfalls Karl-Heinz Steinle für die Unterstützung bei der Koordination und Kontaktpflege sowie den Autor:innen für die gelungene Zusammenarbeit. Ohne den unermüdlichen Einsatz und das Durchhaltevermögen der Beteiligten sowie ohne die erhöhte finanzielle Unterstützung des FHG und externer Geldgeber wären die Bereitstellung der deutschen Textfassungen und damit die Ausgabe in dieser Form nicht möglich gewesen. Wir hoffen, dass die Lektüre der Beiträge genauso viel Freude bereitet wie uns während ihrer Entstehung.
Wie immer freuen wir uns über größere und kleinere Beiträge sowie Rezensionen für die nächsten Ausgaben!
Die Redaktion
Hauptbeiträge
Ineta Lipša
Zur Performanz mann-männlichen Begehrens im öffentlichen Raum Lettlands in der Zeit des späten Stalinismus
Ineta Lipša nimmt in ihrem Beitrag die männliche gleichgeschlechtliche Subkultur im öffentlichen Raum Rigas während des späten Stalinismus (1944–1953) in den Blick. Sie analysiert die Performanz gleichgeschlechtlichen Begehrens, die öffentlichen Raum für mann-männliche sexuelle Handlungen nutzbar machte. Argumentiert wird, dass sich während des behandelten Zeitraums mann-männlich liebende, in Riga sozialisierte Personen als sichtbare, positive Akteure urbanen Lebens begriffen und so eine lebendige homosexuelle Subkultur innerhalb der öffentlichen Sexualkultur schufen. Hauptquelle des Beitrages sind die Tagebücher Kaspars Aleksandrs Irbes (1906–1996), der sowohl seine Zeitgenossen bei der Performanz gleichgeschlechtlichen Begehrens im öffentlichen Raum beobachtete als auch selbst daran teilhatte.
Denisa Vídeňská
Exilantinnen der Liebe. Betrachtungen weiblicher Homosexualität in Lída Merlínovás Werk und Leben
Denisa Vídeňskás Studie widmet sich dem Leben und Werk der tschechischen Schriftstellerin Lída Merlínová (1906–1988). Zu Lebzeiten verfasste Merlínová zahlreiche Texte über Liebe und Freundschaft mit Bezug zu gleichgeschlechtlichen Themen. Sie ist Autorin des wahrscheinlich ersten lesbischen Liebesromans Exilantinnen der Liebe, was für die tschechische Geschichte lesbischer Frauen von besonderer Bedeutung ist. Aus Merlínovás Feder stammen zudem Artikel, die im Homosexuellenmagazin Hlas sexuální menšiny zwischen 1931 und 1933 veröffentlicht wurden.
Im Beitrag werden sowohl der Roman als auch eine Auswahl der Artikel herangezogen, um ein erstes grobes Bild der Wahrnehmung weiblicher Homosexualität in der Tschechoslowakei der 1930er Jahre zu zeichnen, was in der tschechischen Geschichtsschreibung bislang unerkundetes Terrain ist. Den hier untersuchten literarischen Texten werden zudem Rückschlüsse über das Selbstverständnis der Autorin entnommen. Dieses wurde maßgeblich durch einen wissenschaftlichen und juristischen Diskurs bestimmt, in dem medizinische Modelle angeborener und erworbener Homosexualität sowie die permanente Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer und Frauen nebeneinanderstanden.
Hans P. Soetaert
Jean Genet in Brno
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Jean Genets kometenhafte Karriere als französischer Literat, seine Jugend verbrachte er jedoch in einer Strafkolonie, dann trat er in die französische Armee ein, um schließlich von dort zu desertieren. Als Deserteur zog er in den Jahren 1936–1938 durch Europa. Im März 1937 erreichte er die tschechoslowakische Stadt Brno (Brünn). Obwohl er arm war und sich als Prostituierter und Dieb durchschlug, gelang es ihm kurioserweise, sich in der deutschsprachigen linken jüdischen Elite der Stadt zu etablieren. Auf Grundlage bislang unbekannter tschechischer Archivquellen möchte dieser Text Genets Leben in Brno während seines dreimonatigen Aufenthalts dort etwas genauer beleuchten. Hier wird die These vertreten, dass Genet dort wahrscheinlich auch Karl Giese, Magnus Hirschfelds Sekretär und Lebenspartner, getroffen hat. Es scheint, dass Genet auch in wilde, in Brno geschmiedete Pläne zur Ermordung Hitlers verwickelt war. Die Tatsache, dass Genet damals ein 26-jähriger junger Mann war, lässt die Vermutung zu, dass seine Attraktivität in diesen Zusammenhängen eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte.
Joanna Ostrowska
Das Archiv ist voll! Über die queeren Lebenswelten von Adam Gawron im 20. Jahrhundert
Joanna Ostrowska untersucht das queere Privatarchiv des polnischen Partisanen Adam Gawron, einer Person, die 1899 in einer polnischen Kleinstadt an der Eisenbahnstrecke Radom – Dęblin geboren wurde. Der Bauernsohn und Eisenbahner Gawron verstarb im Alter von 90 Jahren und hinterließ eine Sammlung von Fotografien und Familiendokumenten. Sein Nachlass wurde 2021 Ostrowska übergeben, die auf dessen Grundlage sowie durch weitere Recherchen Gawrons Lebenswelten zu rekonstruieren begann. Den Ausgangspunkt der Suche bildeten eine Serie von Fotografien und einige erhaltene Negative, die zwei sich küssende Männer zeigen.
Die Autorin sucht in ihrem Beitrag eine „Landkarte“ queerer Archive zu zeichnen, die sich aus der privaten Fotosammlung ergeben: die Sammlungen der für Gawron nächsten und wichtigsten Personen, die nur teilweise mit dem Begriff Familie zu fassen sind. Gleichzeitig wird die Biographie als eine mögliche von vielen Varianten einer facettenreichen Geschichte gezeigt, in der sich die wichtige Rolle der lokalen Gemeinschaft spiegelt. Adam Gawron, dessen Begehren offensichtlich bekannt war, war ein angesehenes Mitglied der Dorfgemeinschaft.
Für ihre biographischen Untersuchung nutzt Ostrowska neben Gawrons Nachlass Archivalien aus dem II. Weltkrieg und Interviews mit Zeitzeug:innen, die sich an Adam Gawron erinnern. Mit dieser Mikrogeschichte beleuchtet sie ein Stück weit auch die Lebensbedingungen homosexueller Männer im 20. Jahrhundert in Polen. Ostrowska versteht ihre Untersuchung als Anfang, als Einladung zu weiteren Forschungen. Denn queere Geschichte in Polen, so zeigt sie, ist nach wie vor zum Großteil Detektiv:innenarbeit und erfordert nicht erst bei der Auswertung einen besonderen Zugang, kann aber umfangreiches Archivmaterial nutzen.
Lutz van Dijk
Queeres Erinnern in Polen. Wahrnehmungen aus 35 Jahren (1989–2024)
Lutz van Dijk beschreibt 35 Jahre seiner Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit einem Erinnern an queere Opfer der NS-Zeit in Polen, wobei ein Fokus seiner Beschreibungen auf der Gedenkstätte (oder wie es offiziell heißt: dem Staatlichen Museum) Auschwitz liegt. Er beginnt mit einer Verortung der ersten Bemühungen als Student am Historischen Seminar der Universität Hamburg auf der Suche nach Dokumenten und Überlebenden sowie der Dokumentation und häufig noch anonymisierten Veröffentlichung der Ergebnisse seiner Arbeit und der Arbeit anderer.
Konkrete Erfahrungen mit dem Umgang in Polen, in Auschwitz und der nahen Großstadt Krakau gab es erstmals 1989, wobei auch erste Dokumente zu §-175-Häftlingen im Archiv von Auschwitz gefunden wurden. Wenig später kam van Dijk in Kontakt mit dem Polen Teofil Kosiński (1925–2003), der mit 17 Jahren 1942 im Zweiten Weltkrieg nach § 175 verurteilt worden war und die Zeit von Folter und Lagerhaft nur knapp überlebte. Unter dem Pseudonym „Stefan K.“ entstand ein Jugendbuch, das außer in Deutschland auch in anderen Ländern erschien. In den USA wurde Teofil Kosiński u. a. vom Holocaust Memorial Museum in Washington interviewt.
Das nächste Mal besuchte van Dijk Auschwitz 2016, um die 1989 begonnene Forschung wieder aufzunehmen, nun auch im Austausch mit jungen polnischen Historiker*innen. Nur ein Jahr später, 2017, kehrte er auf Einladung des stellvertretenden Direktors der Gedenkstätte Auschwitz zurück und gab eine erste Fortbildung für Guides zum Thema der „§-175-Häftlinge in Auschwitz“ – außerdem stellte er die endlich erschienene polnische Übersetzung des Jugendromans Verdammt starke Liebe über Teofil Kosiński (Stefan K.) vor. Der Plan einer polnisch-deutschen Veröffentlichung entstand, die 2020 in Deutschland und 2021 in Polen unter dem Titel Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten erschien.
Trotz zunehmend homophober Stimmung im Land unter einer rechtsnationalen Regierung gingen Initiativen für Menschenrechte weiter, wie ein historischer Queerwalk in Wrocław 2022 oder die geplante Stolperstein-Verlegung für zwei queere NS-Opfer in Poznań zeigen. Neue Hoffnung geben der Wahlsieg liberaler Parteien und eine neue Europa-freundliche Regierung seit Dezember 2023. In Warschau soll 2024 sogar im Zentrum ein queeres Museum eröffnet werden
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