22 Jahrgang – 2020

22. Jahrgang – 2020

Herausgegeben vom
Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG) e.V.

Redaktion:
Kevin-Niklas Breu (Oldenburg), Stefan Micheler (Hamburg), Kirsten Plötz (Koblenz), Klaus Sator (Berlin)

Erweiterte Redaktion:

Andreas Brunner (Wien), Filippo Carlà-Uhink (Potsdam), Rüdiger Lautmann (Berlin), Andreas Niederhäuser (Basel)

Erschienen im Männerschwarm Verlag, Hamburg

Liebe Leser:innen,

 

bei allen Fortschritten im Kampf um die Gleichberechtigung und Emanzipation und trotz des zunehmenden Empowerments der LSBTTIQ–Community in inzwischen erfreulich vielen Ländern bleibt ihre Geschichte in vielen Bereichen eine Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung. Davon zeugen auch viele der in den letzten gut 20 Jahren veröffentlichten Beiträge in Invertito – und bei weitem nicht nur diejenigen, welche die nationalsozialistische Terrorherrschaft beleuchten. Hinter der geschichtswissenschaftlichen, sich im Wesentlichen auf schriftliche Quellen stützenden Aufarbeitung der sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen gleichgeschlechtlicher Lebenswelten sowie der konkreten Unterdrückungs– und Verfolgungsmechanismen steht als Matrix das, wenn auch oft nur schemenhaft fassbare, individuelle Schicksal. Für die jüngere Geschichte der Homo– und anderer nicht heteronormativer Sexualitäten kommt daher der ZeugInnenschaft eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Kontext steht auch das 2012 von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld initiierte Projekt "Archiv der anderen Erinnerungen", das zum Ziel hat, wenn auch nicht primär als historische Dokumentation, sondern als Sammlung konkreter Erfahrungen und persönlicher Sichtweisen von LSBTTIQ rund um die Fragen nach sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, lebensgeschichtliche Videozeugnisse zu sammeln, zu erschließen und einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Daniel Baranowski, der das Projekt zusammen mit einem Team von freien MitarbeiterInnen seit 2015 leitet, setzt sich in seinem Beitrag mit den methodischen Voraussetzungen und den sich daraus ergebenden Folgerungen für die konkrete Arbeit mit den gesammelten Lebensgeschichten auseinander. Im Zentrum seines "Werkstattberichtes" steht die Auseinandersetzung mit dem im Kontext der Shoah problematisierten Begriff der "ZeugInnenschaft". Dabei plädiert er dafür, die im Rahmen des Projektes gesammelten lebensgeschichtlichen Zeugnisse nicht im objektivierenden Sinne als "Beweise" oder "Informationen" vergangener Zustände, sondern explizit als Narrationen im Sinne von abstrakten Beschreibungen, Schilderungen von Ereignissen, aber auch subjektiven Wahrnehmungen, Gefühlen, Bewertungen, Leidenschaften, Begehren usw. zu verstehen. Dies verringert keineswegs den Stellenwert der Zeugnisse, sondern verschiebt den Fokus des "Wahrhaftigen" und "Authentischen" weg vom Vergangenen auf den Moment des Erzählens des Vergangenen. Es entlastet damit die "ZeugInnen" vom Anspruch, Beweise, Gewissheiten und gültige Wahrheiten liefern zu müssen, ermächtigt sie, unabhängig von Erwartungen ihre Geschichte(n) zu erzählen, und eröffnet so den Raum auch für "andere Erinnerungen".

 

Für das vorliegende Jahrbuch war von der Redaktion zwar kein Schwerpunktthema gewählt, wohl nicht zuletzt der Umstand, dass das jährliche Treffen des FHG 2019 in Stuttgart stattfand, führte jedoch dazu, dass die meisten der eingereichten Beiträge Aspekte der LSBTTIQ–Geschichte Baden–Württembergs beleuchten. Im Auftaktbeitrag macht sich Joachim Brüser, angestoßen durch ein Erinnerungsprojekt für Opfer der NationalsozialistInnen in Kirchheim unter Teck, in einer aufwendigen Archivrecherche auf die Suche nach homosexuellen Männern, die in dieser unweit Stuttgarts gelegenen Mittelstadt während der NS–Herrschaft, aber auch in der Nachkriegszeit wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verurteilt wurden. Nicht zuletzt aufgrund der teils schlechten Überlieferung ist er lediglich auf zwei Fälle gestoßen. Ein weiterer Fall ist nur durch die Erinnerung von NachbarInnen und Familienangehörigen bekannt. Joachim Brüsers Beitrag zeigt nicht nur eindrücklich die Schwierigkeiten bei der Recherche auf, sondern bietet auch einen Einblick in Aufarbeitung der und Gedenken an die Homosexuellenverfolgung abseits der großen Zentren in der sogenannten "Provinz".

 

Die Frage nach der Verfolgung resp. der Form der Verfolgung lesbischer Frauen während der nationalsozialistischen Herrschaft führt immer wieder zu teils heftigen Diskussionen zwischen HistorikerInnen, die zum Thema forschen. Eine gängige These lautet dabei, dass lesbische Frauen mit dem Vorwurf der "Asozialität" vermehrt psychiatrisiert worden seien, allerdings ohne dass diese Behauptung mit einschlägigen Studien verifiziert werden konnte. Im Rahmen eines vom Landesnetzwerk LSBTTIQ Baden–Württemberg initiierten, für die Bundesrepublik singulären Projektes, sichtet nun Claudia Weinschenk in den Landesteilen Baden und Württemberg die Akten dreier Jahrgänge jeweils einer Universitätspsychiatrie und einer Heil– und Pflegeanstalt nach Hinweisen auf Patientinnen, die aufgrund gleichgeschlechtlicher Handlungen in die Anstalten eingewiesen wurden sind. Im vorliegenden Werkstattbericht präsentiert sie unter Berücksichtigung der komplexen methodischen Fragestellungen und Probleme nun erste Ergebnisse aus der Recherche im Archiv der Universitätspsychiatrie Heidelberg. Zwar ist sie bei ihren Forschungen lediglich auf vier Fälle gestoßen, bei denen lesbische oder möglicherweise lesbische Handlungen offen angesprochen wurden. Sie vermag aber aufzuzeigen, dass bei einer größeren Zahl von Frauen, die während des untersuchten Zeitraums in die Universitätspsychiatrie eingewiesen wurden, gleichgeschlechtliche Handlungen — wenn in den Akten auch nicht direkt benannt — eine Rolle gespielt haben könnten.

 

Julia Noah Munier geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung der sich in der Nachkriegszeit bildenden sogenannten Homophilenbewegung als Akteurin im Anerkennungsprozess gleichgeschlechtlicher Lebensweisen zukommt. Dabei wird diese nicht als homogenes Ganzes, sondern als "performative Assemblage" von unterschiedlichsten Diskursen, Affekten, Praktiken und Artefakten verstanden. In ihrer Analyse, die sich methodisch wesentlich auf soziologische Theorien stützt, unterscheidet sie unter Beiziehung einzelner schriftlicher Quellen verschiedene Phasen der Herausbildung der Homophilenbewegung: von der Grundvoraussetzung einer homophilen Subjektivierung durch die individuelle wechselseitige Anerkennung über die am Beispiel von Tanzveranstaltungen gesellschaftlich verortete Entstehung von Mikrokollektiven und die Herausbildung einer anerkennungsfähigen homophilen Identität bis hin zum Entstehen größerer Netzwerke, die schließlich mit einer Strategie der "stillen Diplomatie" die erfolgreiche Basis für eine Entkriminalisierung einvernehmlicher homosexueller Handlungen Ende der 1960er Jahre bildete.

 

Auch der letzte Schwerpunktbeitrag ist zeitlich in der Nachkriegszeit angesiedelt. Artur Reinhard beleuchtet anhand der Auswertung von Straf– und Disziplinarakten den Fall eines Tübinger Studenten, der wegen Verstoßes gegen den § 175 zweimal verhaftet wurde. Neben dem biographischen Hintergrund — der Student war u. a. mehrere Monate in psychiatrischen Kliniken — legt Reinhard einen besonderen Fokus auf die Verteidigungsstrategien der Angeklagten, die mit ihren Aussagen zu verhindern suchten, dass sie vor Gericht als "veranlagte" und damit nicht "heilbare" Homosexuelle eingestuft wurden, um so die Chancen auf ein mildes Urteil zu erhöhen. Das Strafverfahren hatte für den Studenten aber auch direkte Auswirkungen auf seine akademische Laufbahn, denn die Universitätsleitung wurde vom Strafgericht über das Strafverfahren informiert. Als Folge davon eröffnete sie selbst ein Disziplinarverfahren, da sie sein Verhalten als schweren Verstoß gegen die akademische Sitte bewertete. Sie agiert damit in einer Weise, wie sie in dieser Zeit auch an anderen Universitäten üblich war.

 

Abgeschlossen wird das Jahrbuch wie immer durch eine Reihe von Rezensionen wichtigen Neuerscheinungen zur Geschichte der Homosexualitäten quer durch die Jahrhunderte. Für das nächste Jahrbuch ist kein Schwerpunktthema geplant. Invertito nimmt daher gerne Beiträge und Berichte aus verschiedensten Themenfeldern entgegen.

 

Die Redaktion

Hauptbeiträge

Joachim Brüser gibt am Beispiel einer württembergischen Mittelstadt einen Einblick in das Gedenken an die homosexuellen NS–Opfer jenseits der Zentren homosexuellen Lebens. Zahlreiche Menschen litten während der Zeit des Nationalsozialismus auch in der Provinz unter staatlicher und staatlich sanktionierter Verfolgung. Für die württembergische Stadt Kirchheim unter Teck sind die meisten Opfergruppen aufgearbeitet. Nur eine Gruppe von Menschen, die wegen ihrer Andersartigkeit während der Herrschaft der Nationalsozialisten massiv leiden mussten, hatte vor Brüsers eigenen Forschungen dort keine Aufmerksamkeit gefunden: die der Homosexuellen, die nach § 175 StGB entrechtet und verfolgt wurden.

 

Durch intensive Archivrecherchen kann Brüser die Geschichten zweier Männer erzählen und durch Zeitzeugenberichte das Schicksal eines weiteren Mannes beleuchten. Das Denkmal, das 2017 zum Gedenken an die zivilen Opfer des Nationalsozialismus von der Bildhauerin Monika Majer auf dem Alten Friedhof in Kirchheim errichtet wurde, erinnert mit einem der über 20 Spruchbänder mit dem Satz "Ich liebte einen Menschen meines eigenen Geschlechts und wurde verhaftet." auch an die homosexuellen Opfer des NS–Regimes.

Claudia Weinschenk stellt in ihrem ausführlichen Werkstattbericht erste Teilergeb­nis­se einer Studie über die Auffindbarkeit lesbischer Frauen in psychiatrischen Kli­ni­ken während der NS–Herrschaft im heutigen Baden–Württemberg vor. Die Hypothese, lesbische Frauen seien in der NS–Zeit unter dem Vorwurf der "Aso­zia­lität" in Psychiatrien verbracht worden, lässt sich zumindest für die badische Uni­versitätspsychiatrie Heidelberg nicht bestätigen, weil es keine entsprechenden Hin­weise in den Akten gibt. Es finden sich aber Spuren möglicherweise lesbischer Frauen.

 

Auffallend an den Akten der Universitätspsychiatrie Heidelberg ist, dass weibliche Homosexualität nur marginal offen angesprochen wurde. Inwiefern lesbische Frauen eben gerade wegen ihrer sexuellen Neigung oder Orientierung so auffällig geworden waren bzw. so sehr gegen gesellschaftliche Normen verstoßen hatten, dass ihre Umgebung sie als "nicht mehr tragbar" empfand und dann in die Psychiatrie verbrachte (wo sie eine gängige Diagnose ohne Bezug auf ihre Homosexualität erhielten) ließ sich aus den gesichteten Akten nicht erschließen. Die Behandlung erfolgte aufgrund der vergebenen psychiatrischen Diagnose, nicht um eine mögliche homosexuelle Neigung zu "heilen".

 

Auch für diese Frauen wurde unterschieden zwischen behandelbaren Frauen, die dann (teilweise unfruchtbar gemacht) als arbeitsfähig, also als nützlich für die nationalsozialistische Gesellschaft, aus der Klinik entlassen wurden, und den nicht behandelbaren Frauen, die als "unnützer Ballast" der Gesellschaft in Heil– und Pflegeanstalten, zumeist in die nahe Heidelberg befindliche Heil– und Pflegeanstalt Wiesloch, zur "Verwahrung" und möglichen Ermordung im Zuge der T4–Aktion verbracht wurden. Warum die Frauen, die möglicherweise lesbisch waren, deutlich länger in der Klinik verblieben als die Gesamtheit aller Frauen dieser drei Jahrgänge, konnte bisher nicht geklärt werden.

 

Wie die Spuren einzuordnen sind, was sie bedeuten, ob sie als tatsächliche Hinweise auf lesbische Lebensweisen interpretiert werden können, wird Claudia Weinschenk in ihrer ausführlichen Studie ergründen, für die nun und in den folgenden Jahren auch Akten der Universitätsklinik Tübingen und der beiden Heil– und Pflegeanstalten Stetten i. R. und Emmendingen gesichtet werden.

 Julia Noah Muniers Beitrag rückt das Engagement homophiler Männer und die Herausbildung einer Homophilenbewegung im deutschen Südwesten der 1950er und 1960er Jahre in den Fokus. Den gesellschaftlichen Rahmen dieses Engagements bilden die auch nach 1945 weiterbestehende Strafandrohung und –verfolgung durch den § 175 StGB und eine weitreichende gesellschaftliche Stigmatisierung von homo– und bisexuellen Männern, die in Baden–Württemberg besonders schwerwiegend waren. Daher handelten die Aktivist*innen vielfach im Verborgenen oder hinter den Kulissen, ein Vorgehen, das Munier auch als "stille Diplomatie" beschreibt. Möglicherweise war diese für die einzelnen Akteur_innen so wichtige Handlungsstrategie — ihre vordergründige "Unsichtbarkeit" — ein Grund für ihre vermeintliche Erfolglosigkeit und ergo die weitgehende Ausklammerung der Bewegung in der wissenschaftlichen Forschung.

 

Diese Handlungsstrategie, die im Wesentlichen auf eine Abschaffung des § 175 StGB zielte, flankierte die öffentlichen Bemühungen liberaler Strafrechtler*innen der Zeit, insbesondere auch aus Baden–Württemberg, die sich im Zuge der Diskussion um die Große Strafrechtsreform für die Reform des Sexualstrafrechts einsetzten. Munier skizziert aus einer kulturwissenschaftlich geprägten historiographischen Perspektive und unter Rekurs auf das Konzept des "Gefüges" nach Deleuze und Guattari zudem unterschiedliche, auf gesellschaftliche wie individuelle Anerkennung zielende Facetten der bundesrepublikanischen Homophilenbewegung. Sie zeigt ihre Bedeutung auch jenseits der strafrechtlichen Bemühungen. Dabei folgt der Artikel in seinem Aufbau der Bedeutsamkeit kleinster sozialer Einheiten für die Anerkennung einer homophilen Identität, über Mikrokollektive und Abgrenzungsfiguren hin zu Netzwerken, Organisationen und ihren Handlungsstrategien im Bemühen um gesellschaftliche Emanzipation.

Artur Reinhard zeigt anhand der Auswertung von Strafakten und Disziplinarakten, wie die Universität Tübingen in den 1950er Jahren gegen Männer begehrende Studenten vorging. Ein Student der Universität Tübingen wurde in den 1950er Jahren zweimal aufgrund von "Unzucht zwischen Männern" verhaftet. Bei den anschließenden Gerichtsverfahren musste er sich gegen tradierte Feindbilder über homosexuelle Männer wehren. Für alle beschuldigten Männer war es wichtig, nicht als "veranlagter Homosexueller" zu gelten, weshalb sie Gründe nannten, warum sie sich zu homosexuellen Handlungen hätten hinreißen lassen. Dabei kam es auch unter den Beschuldigten zu gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen.

 

Nach der Urteilsverkündung folgte gegen den Studenten zusätzlich ein Disziplinarverfahren an der Universität Tübingen, die deshalb Zugriff auf die Strafakten erhielt. Dem Studenten wurde vorgeworfen, gegen die "akademische Sitte" verstoßen zu haben, weshalb er bestraft werden müsse. Als disziplinarische Maßnahme wurde er von der Universität verwiesen. Zum Verfahren vor dem Disziplinarausschuss kam es nicht, da der Student die Universität vorher verließ. Die Universität unternahm dabei keine Maßnahmen, die ihre damals zugebilligten Kompetenzen überschritten hätten.

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