Die Gedenktafel zum NS-Terror der Kripoleitstelle Stuttgart erinnert nun endlich auch an verfolgte Angehörige sexueller Minderheiten
Beitrag von Ralf Bogen
Der NS-Verfolgungsbereich „Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ wurde in Stuttgart maßgeblich von zwei Orten aus betrieben: zum einen von der Gestapo in der heutigen Dorotheenstraße 10, deren Gebäude als „Hotel Silber“ bekannt ist, und zum anderen vom ehemaligen Polizeipräsidium, das ab 1936 als Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart bezeichnet wurde und seinen Sitz in der Büchsenstraße 37 hatte. Hier war ein Polizeigefängnis untergebracht, welches im Volksmund „Büchsenschmiere“ genannt wurde.
Viele Jahrzehnte lang haben LSBTIQA+-Gruppen und Personen in Stuttgart darum gekämpft, dass das NS-Unrecht an queeren Menschen an beiden Orten sichtbar gemacht wird. 2018 war es auch durch die Erinnerungsarbeit des Projekts „Der-Liebe-wegen.org“ gemeinsam mit der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber und vielen engagierten Menschen gelungen, dass in der Dauerausstellung im Erinnerungsort „Hotel Silber“ das §175-Unrecht sowohl während der NS-Zeit als auch in der Nachkriegszeit angemessen dargestellt wird. Auch das Leid lesbischer Frauen und geschlechtlicher Minderheiten sowie die Kriminalisierung und Schikanierung von Frauen wegen §218 nach 1945 wird thematisiert und damit sichtbar.
Am 25. Juni 2024 gab es im Hospitalviertel eine Buchvorstellung und die Eröffnung der Ausstellung „Die ‚Büchsenschmiere‘ im Hospitalviertel. Ein vergessenes Kapitel in der Stuttgarter Stadtgeschichte“. Das Buch wurde von Dr. Peter Poguntke (Historiker), Andreas Keller (1. Vorsitzender von Zeichen der Erinnerung e.V.) und Monika Renninger (Pfarrerin und Leiterin des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart) herausgegeben. In dem Band ist ein Kapitel „Homosexuelle im Visier“ enthalten, welches unter anderem auf die Arbeit des Projekts „Der-Liebe-wegen.org“ aufbaut. Zeitgleich wurde erfreulicherweise der Text auf der Gedenktafel zur Erinnerung an die NS-Verbrechen im Hospitalviertel durch die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart überarbeitet, sodass nun auch an Angehörige sexueller Minderheiten erinnert wird (siehe Foto und siehe den Beitrag „Gedenktafel zum NS-Terror der Kripoleitstelle Stuttgart erinnert nun auch an Angehörige sexueller Minderheiten“ auf der Webseite vom Projekt „Der-Liebe-wegen.org„).
Die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart
(Auszüge aus dem Beitrag von Ralf Bogen auf der Webseite „Der-Liebe-wegen.org“)
Die Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart gehörte nach der im Runderlass vom 26. Juni 1936 geregelten “Neuordnung der staatlichen Kriminalpolizei” zu den damals insgesamt 14 Kriminalpolizeileitstellen im Deutschen Reich. Ihr waren die Kriminalpolizeistellen Stuttgart (einschließlich Sigmaringen), Karlsruhe, Kaiserslautern und Saarbrücken zugeordnet. Die von Ernst Lauer geleitete Leitstelle war in acht Dienststellen unterteilt, wobei die mit der Verfolgung homosexueller Männer verbundenen Aufgaben von der Dienststelle 6 “Sittlichkeitsverbrechen” mit einem sogenannten “Sittentrupp” zu bewältigen waren. (1) (…) Die Zahl der von der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart aufgrund § 175 ermittelten Täter betrug im Jahre 1937 1.412 und im Jahre 1938 1.159. Für 1939 ist lediglich die Zahl für das 1. Vierteljahr mit 264 Täterermittlungen bekannt. (2) Insgesamt waren es damit im Zeitraum von 1937 bis zum ersten Vierteljahr 1939 2.835 ermittelte § 175-Täter. Aus überlieferten Gerichts-, Gefängnis- oder Spruchkammerunterlagen des Staatsarchivs Ludwigsburg geht hervor, dass der Polizei Homosexuellentreffpunkte bekannt waren. In Stuttgart waren dies zum Beispiel der Hauptbahnhof, der Schlosspark, die öffentliche Bedürfnisanstalt am Friedrichsbau sowie die städtischen Schwimmbäder Büchsenbad und Inselbad in Stuttgart-Untertürkheim.
KZ-Einweisungen der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart und der ihr zugeordneten Kriminalpolizeistellen Stuttgart (einschließlich Sigmaringen), Karlsruhe, Kaiserslautern und Saarbrücken
Nach Ablauf der verbüßten Haftzeit forderten die in Baden und Württemberg zuständigen Kriminalpolizeistellen von den jeweiligen Gefängnisleitungen eine Stellungnahme zu den einzelnen Gefangenen. Sie wies diese an, die Häftlinge nach Strafverbüßung nicht freizulassen, sondern wegen Prüfung der Vorbeugungshaft, sprich: KZ-Einweisung, an die Kriminalpolizeistellen zu überweisen (siehe z. B. entsprechende Korrespondenzen zwischen der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart und dem Zuchthaus Ludwigsburg bzw. Gefängnisse Ulm vom April 1940 bei Friedrich Enchelmayer, vom Juli 1940 bei Albert Fendel, vom Dezember 1940 bei Otto Schorer oder vom Oktober 1941 bei Gallus Stark). In der Richtlinie vom 4. April 1937 zum Erlass “Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei” war als Einweisungsort für Männer aus den Bezirken der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart das KZ Dachau bei München bestimmt, in das bis zur Errichtung des KZ Natzweiler-Struthof 1941 die meisten der der Homosexualität beschuldigten Männer eingewiesen wurden. (3) Überlieferte Dokumente über KZ-Einweisungen folgender Männer belegen die Praxis der Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart und der ihr zugeordneten Kriminalpolizeistellen:
Friedrich Enchelmayer: Einweisung am 1. Juni 1940 in das KZ Dachau durch die „Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart“
Gottlob Doderer: Einweisung am 7. September 1940 in das KZ Dachau durch die „Kripo Stuttgart“
Albert Fendel: Einweisung am 21. September 1940 in das KZ Dachau durch die “Kripoleitstelle Stuttgart“
Oskar Ragg: Einweisung am 10. Januar 1941 in das KZ Dachau durch die „Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart“
Karl Lohmele: Einweisung am 7. April 1941 in das KZ Stutthof durch die „Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart“
Edwin Blattner: Einweisung am 16. Juni 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Stuttgart“
Adolf Ferrari: Einweisung am 5. September 1941 in das KZ Dachau durch die „Kripo Metzingen“
Karl Aretz: Einweisung am 22. September 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Karlsruhe“
Heinz M.: Einweisung am 6. Oktober 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Ludwigshafen“
Gottlob Giess: Einweisung am 27. Oktober 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Stuttgart“
Kurt Baumgart: Einweisung am 22. Dezember 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Karlsruhe“
Gallus Stark: Einweisung am 29. Dezember 1941 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Ulm“
Gerhard Fries: Einweisung am 16. März 1942 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Karlsruhe“
Wilhelm Keil: Einweisung am 6. Juli 1942 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Stuttgart“
Friedrich Hauser: Einweisung am 17. August 1942 in das KZ Flossenbürg durch die „Kripo Karlsruhe“
Oktav Andlaw: Einweisung am 8. Oktober 1942 in das KZ Dachau durch die „Kripo Karlsruhe“
Johannes Kolb: Einweisung am 30. Dezember 1942 in das KZ Natzweiler durch die „Kriminalpolizeileitstelle Stuttgart“
Georg Flösser: Einweisung am 23. Juli 1943 in das KZ Natzweiler durch die „Kripo Karlsruhe“
Quellen:
(1) Christian Kaufmann: “Die Stuttgarter Kriminalpolizei im Dritten Reich – ein unrühmlicher Teil deutscher Polizeigeschichte”, Diplomarbeit der Hochschule für Polizei Villingen-Schwenningen, Oktober 2010.
(2) Rainer Hoffschildt: Statistik der Verfolgung homosexueller Männer im heutigen Land Baden-Württemberg – 1882–1994, unveröffentlichtes Manuskript, Hannover 2011.
(3) Günter Grau (Hrsg.): Homosexualität in der NS-Zeit – Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt 1993, S. 188ff. In der Richtlinien vom 4. April 1938 zum Erlass „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ heißt es unter II. Durchführung: -„bei Männern aus den Bezirken der Kriminalpolizeileitstellen Königsberg, Berlin-Stettin, Hamburg, Bremen, Breslau und Hannover z. Zt. in Sachsen b. Oranienburg, aus den Bezirken der Kriminalpolizeileitstellen Dresden, Düsseldorf, Halle und Köln z. Zt. in Buchenwald b. Weimar, aus den Bezirken der Kriminalpolizeileitstellen München, Stuttgart, Frankfurt a. M. und Juden aus allen Bezirken z. Zt. in Dachau b. München.“
Tarnung und Selbstverleugnung als Folge der staatlich verordneten Zwangsheterosexualität
Auszüge aus: Ralf Bogen, Dieter Salwik, Matthias Strohbach, Thomas Ulmer in „Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft – Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit. Schwulst Sonderheft 3/April 2010, hrsg. von Schwulst e. V. und Weissenburg e.V., Stuttgart
Aus Protokollen von Stuttgarter Polizeivernehmungen im Juli 1933:
Der Paragraph 175 war 1933 noch nicht durch die Nazis verschärft worden, sodass wechselseitige Onanie zwischen erwachsenen Männern noch nicht strafbar war und dadurch leichter zugegeben werden konnte:
„Meinen ersten normalen Geschlechtsverkehr hatte ich im Frühjahr 1929 mit einer Sängerin am Landestheater, die ich sehr liebte. Bis zu diesem Zeitpunkt und auch seither habe ich meine geschlechtliche Befriedigung z. T. darin gefunden, dass ich mit einer Anzahl gleichaltriger Männer gegenseitig onanierte…. Ich unterhalte übrigens seit neuerer Zeit ein wirkliches Liebesverhältnis zu einer Frau, die ich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch liebe, sodass ich die Hoffnung haben darf, dass nunmehr meine bisexuelle Veranlagung zurückgedämmt ist. Diese Hoffnung habe ich um so mehr, als ich auch den ernsten Willen habe, meine Abnormität zu bekämpfe. Ich will jetzt ein gesunder Mensch werden.“
– aus der Vernehmung von Walter L., geb. 1907, durch das Polizeipräsidium Stuttgart im Juli 1933.
„Der Grund, warum seit dem letzten Vorfall (homosexuelle Handlung ist hier gemeint, Anm. d. A.) zwischen Ostern und Pfingsten 1933 nicht die Vorfälle wiederholt haben ist der, dass ich um diese Zeit die Bekanntschaft mit einem Mädchen in Birkach gemacht habe. Ich möchte bitten, dass mir unterlassen bleibt, den Namen des Mädchens zu nennen. Zwischen dem Mädchen und mir hat sich ein mit Geschlechtsverkehr verbundenes Liebesverhältnis entwickelt und dies ist der Grund, warum ich mich von W. zurückgezogen habe…..Ich bin geschlechtlich durchaus normal veranlagt und bin zu Handlungen mit W. einzig und allein von diesem veranlasst worden….Ich war mir selbstverständlich klar darüber, das, was ich mit W. getan habe, an sich eine Schweinerei ist. Ich konnte aber dem Drängen von W. nicht widerstehen, denn er ist ja der wesentlich Ältere von uns beiden, hat mir viel Gutes getan, allerdings in anderer Beziehung einen guten Einfluss auf mich ausgeübt“
– aus der Vernehmung von Otto M.., geb. 1914, durch das Polizeipräsidium Stuttgart im Juli 1933.
„Bis zum Jahre 1928 habe ich von gleichgeschlechtlichen Regungen an mir nichts verspürt. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt mit einer Reihe von Damen intime Beziehungen unterhalten und hatte hierbei stets meine volle Befriedigung gefunden….. Ich habe zu dieser meiner anormalen Veranlagung der letzten Jahre jedoch anzugeben, dass ich in der letzten Zeit den festen Willen hatte, mich wieder in ein normales Geschlechtsleben zurückzufinden…. Ich hatte auch in den letzten Wochen Verbindungen mit der Schauspielerin Anni W. am Stadttheater Freiburg angeknüpft. Mit dieser Anni W. wollte ich eine Ferienreise unternehmen bei der ich mich dann wieder wohl bestimmt in normale Geschlechtsverhältnisse zurückgefunden hätte“ – aus der Vernehmung von Ernst W. geb. 1893, durch das Polizeipräsidium Stuttgart im Juli 1933.
Aus Protokollen von Polizeivernehmungen von 1940 und 1944
„Im Sommer 1933 war ich im Hotel und Kurhaus Neues Leben. Hier lernte ich einen Gärtner kennen, dessen Namen mir aber nicht mehr bekannt ist. Mit diesem Gärtner habe ich mich in sittlicher Beziehung verfehlt. Wir haben beide gegenseitig onaniert. Ich wurde damals mit 1 Jahr Gefängnis bestraft… Ich kann aber nicht zugeben, dass ich homosexuell veranlagt bin. Ich habe schon öfters Reisen nach Paris, Monte Carlo und Italien gemacht. Hier hatte ich genügend Gelegenheit um Anschluss mit Frauen zu finden und hatte ich es nicht notwendig mich homosexuell zu betätigen….Nachdem ich 1935 wegen der widernatürlichen Unzucht bestraft war und furchtbar büßen musste, auch immer wieder von meinen Angehörigen vorgehalten bekam, dass ich diese Schmach über die Geschwister und über meinen alten Vater gebracht hatte, kam keine derartige Regungen für mich in Frage… Wenn mir nun vorgehalten wird, dass ich in meinem Besitz noch Adressen von jungen Männer gefunden wurden und der Verdacht besteht, dass ich mich diesen auch in sittlicher Hinsicht genähert haben könnte, so muss ich hierzu folgendes angeben….“
– aus der Vernehmung von Ludwig S., geb. 1985, im April 1940.
Ludwig S. macht zu sieben Männern Angaben, die mit ihm im Hotel Royal in Stuttgart beschäftigt waren und bestreitet mit diesen „in sittlicher Beziehung“ etwas zu tun gehabt zu haben. Die Stuttgarter Kriminalpolizei verhörte daraufhin alle sieben Männer nach §175-„Verfehlungen.“ „Sollte ich mich je verfehlt habe, so, bitte ich, meine Veranlagung dabei etwas zu berücksichtigen. Ich weiß, dass derartiges verboten ist. Vor etwa einem Jahr stand ich wegen einer ähnlichen Sache vor Gericht. Ich habe mir damals fest vorgenommen, nie wieder straffällig zu werden. Meine Veranlagung war jedoch stärker wie mein Wille. Mein Familienverhältnis sind geordnet. Mit meiner Frau lebe ich im besten Verhältnis. Nach meiner letzten Bestrafung habe ich mir vorgenommen, mich nur noch meiner Familie und meinem Beruf zu widmen. Ich glaube, dies auch durchführen zu können. Leider ist mir nun wieder das passiert.“
– aus der Vernehmung der Gendarmerie-Kreis Esslingen von Paul F. im März 1944.